Artikel aus "Kirchenbote für den Kanton Zürich", 10/2004

Im Juni wird das Bullinger-Jubiläum mit einer Ausstellung im Grossmünster eröffnet. Wer war der Reformator, um den sich jetzt alles dreht? Dazu Michael Baumann, Theologe und wissenschaftlicher Berater bei der Ausstellung.

ŤDie Wahrheit misst sich am Evangeliumť

Interview: Christine Voss

Kirchenbote: Herr Baumann, von Juni bis Oktober wird die Zürcher Landeskirche das Bullinger-Jubiläum feiern. Warum ein so gross angelegtes Projekt?

 

Michael Baumann: Das ist eine Frage, die uns auch immer wieder beschäftigt. Der wichtigste Punkt ist vielleicht der: Ohne Bullinger wäre die Reformation in der deutschen Schweiz anders verlaufen. Bullinger hat sozusagen die Weichen gestellt, die für die weiteren Geschehnisse in Kirche und Gesellschaft entscheidend waren.

Kirchenbote: Dennoch - Bullinger ist heute für viele eine unbekannte Figur. Warum, wenn er doch so wichtig war?

Michael Baumann: Man hat ihn halt vergessen.

Kirchenbote: Zu Unrecht offensichtlich…

Michael Baumann: Vielleicht vergisst man historische Figuren wieder, wenn die nachfolgende Zeit sie nicht mehr beachtet. Es gab neben Luther, Zwingli und Calvin noch viele bedeutende Reformatoren, von denen man heute kaum noch redet. Bei Bullinger liegt es möglicherweise daran, dass er eine ruhige Existenz ohne grössere Skandale führte. Man hat seine Ideen aufgenommen, geschätzt, umgesetzt – und dann ist die Entwicklung weitergegangen. In einem Ausstellungsinterview wird die Situation treffend mit einem Fussballmatch verglichen: Zwingli war der Stürmer, Bullinger der Verteidiger. Auch heute feiert man meistens die Stürmer, wenn sie ein Goal schiessen, allenfalls noch die Goalis, aber von den Verteidigern redet man kaum.

Kirchenbote: Also ein verkannter Schaffer im Hintergrund?

Michael Baumann: Nein, zu seiner Zeit war Bullinger eine der prägendsten Persönlichkeiten in der reformierten Kirche. Er nahm in Zürich so etwas wie eine positive Patriarchenrolle ein: als Ehemann und Vater von elf Kindern, als Fürsorger mit seinem Einsatz für Flüchtlinge und Arme, als Prediger, der die Menschen bewegen konnte, als Rektor der damaligen theologischen Hochschule, die er von Grund auf erneuerte. Ich frage mich, ob er eigentlich je schlief, wenn ich seine gewaltige Arbeitsleistung betrachte. Neben dem Verfassen von Briefen, theologischen und historischen Werken hielt er rund 7000 Predigten. Ich glaube, wir hätten keine Finanzsorgen mehr in der Kirche, wenn wir uns an Bullinger als Arbeitsideal orientieren würden

Kirchenbote: Wobei wohl nicht alles, was er sagte, so ideal war…

Michael Baumann: Ja. Es gibt auch dunkle Seiten in der Biografie Bullingers. Ganz sicher seine problematischen Stellungnahmen gegenüber den Täufern – was allerdings aus der damaligen Zeit heraus zu verstehen ist – und seine sehr schroffe Ablehnung der Juden. Überhaupt aller ŤAndersgläubigenť, wozu auch die Ťverfallende Kirche in Romť gehörte, die er als ŤAntichristť identifizierte.

Kirchenbote: Was war Bullingers theologische Leistung?
 
Michael Baumann: Da ist natürlich das ŤZweite Helvetische Bekenntnisť, eine persönliche Zusammenfassung der reformierten Lehre, die in vielen Ländern – und heute noch in Osteuropa – als Glaubensgrundlage akzeptiert wurde. Bullinger begründete damit auch das bis heute prägende positive Zusammenspiel von Kirche und Staat, wobei er aber immer darauf pochte, dass die Predigt unabhängig sei und auch politische Missstände anprangern müsse. Gemäss Bullinger dürfte es keinen ŤMaulkorbť für die Pfarrer geben.

Kirchenbote: Wo ist Bullinger heute noch aktuell?

Michael Baumann: Bullinger wäre heute ein ziemlich unbequemer Mensch. Denn sein Grundsatz war, man müsse die Wahrheit verkünden, selbst wenn niemand sie hören wolle. Was aber Wahrheit ist, in theologischen wie politischen Fragen, messe sich allein am Evangelium. Das heutige Klagen, die Kirche werde nicht mehr ernst genommen, wäre nicht Bullingers Art gewesen. Er würde uns Kirchenleuten wahrscheinlich zurufen: ŤIhr Angsthasen, dann macht halt mal endlich den Mund auf und sagt, was ihr denkt!ť Egal, ob es um die Abstimmung über das Kirchengesetz geht oder um den Film von Mel Gibson – Bullinger wäre wahrscheinlich geradewegs zur Tagesschau gelaufen, um seine Meinung dort publik zu machen.

Kirchenbote: Und was würde er zu den Jubiläumsfeiern sagen?

Michael Baumann: Sicher hätte er Freude an der Vielfalt der Veranstaltungen, die geplant sind. Aber wahrscheinlich würde er die zahlreichen Vorträge, Diskussionen und Lesungen letztendlich gar nicht besuchen, sondern lieber zu den Gottesdiensten der neu entstehenden Jugendkirche gehen.